Was der Frühling mit den Kirschbäumen tut

So oft wird heute von „Liebe“ gesprochen, dass der Begriff eine gewisse Profanität bekommen hat. Liebe ist aber weder profan, noch ist sie heilig, aber sie hat doch weit mehr Aspekte und Dimensionen, als uns die meisten Liebeslieder und Werbejingles glauben machen wollen.

Bewusst geworden ist mir das heute beim Lesen und (laienhaften) Übersetzen des Gedichtes „Poema XIV“ des chilenischen Politikers und Dichters Pablo Neruda.

„Juegas todos los días con la luz del universo“ beginnt es, „sutil visitadora, llegas en la flor y en el agua“ – „Jeden Tag spielst Du mit dem Licht des Universums, unmerklicher (zarter) Besucher, der du in den Blumen und im Wasser erscheinst“. Spricht Neruda hier von der Liebe oder schon von der Geliebten? Beides scheint möglich, und auch im weiteren Text wechselt scheinbar immer wieder der Adressat: Liebe, Geliebte, Liebender, Geliebtsein, Lieben – das alles verschwimmt ineinander, wächst in- und wieder auseinander und reicht vom Kleinsten bis ins Größte, vom Schmetterling bis zu den Sternen des Südens, unmerklich und überwältigend gleichzeitig, ambivalent wie Wasser und Wind.

Im Lesen dieser Zeilen ist mir bewusst geworden, wie zart und zugleich mächtig, wie unberechenbar und zugleich unausweichlich Liebe sein kann, vielleicht sein muss.

Das Gedicht endet mit einem der schönsten Versprechen, das ein Mensch einem anderen geben kann: „Quiero hacer contigo lo que la primavera hace con los cerezos“ – „Ich möchte mir dir tun, was der Frühling mit den Kirschbäumen tut“. Einen anderen Menschen aufblühen lassen, ihn zu der ganzen Schönheit werden lassen, die ihm innewohnt – das sollte der Kern wirklicher, wahrer Liebe sein.

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Michael

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