Als die Bewegtbilder demokratisch wurden

In wenigen Jahren schon wird man auf die Ära des linearen Fernsehen als eine Zeit des Übergangs zurückblicken.

Die Notwendigkeit, Fernsehprogramme jeweils zu einer bestimmten Uhrzeit auszustrahlen, ergab sich seit Erfindung des Fernsehens aus der schieren technischen Notwendigkeit, dass die Bildsignale zuerst über Antenne, später über Kabel oder Satellit nur Sendung für Sendung vom Fernsehsender zu den Empfängern „geschickt“, also übertragen werden konnten. Nur so war das Massenmedium Fernsehen möglich, weil weder auf den terrestrischen, noch auf den Satelliten- oder Kabelfrequenzen unbegrenzt viele „Streams“ möglich waren. Das hat sich erst durch das Internetprotokoll TCP/IP geändert, bei dem Daten paketweise vom Sender zum Empfänger transportiert werden, was prinzipiell eine unbegrenzte Zahl von „Sendungen“ ermöglicht.

Dass Menschen also jahrzehntelang darauf trainiert wurden, jeden Abend zur selben Zeit die „Tagesschau“ oder den „Tatort“ zu sehen, entsprang nicht dem Wunsch danach, „Straßenfeger“ zu veranstalten, sondern war technisch notwendig. Fernsehmanager erfanden daraufhin das Bild vom „gesellschaftlichen Lagerfeuer“: Menschen fühlten sich angeblich wohl bei dem Gedanken, dass viele Hunderttausende das gleiche taten wie sie selbst. In Teilen stimmt das vielleicht sogar, wie auch heute vor allem Liveereignisse wie Fußballspiele oder (eingeschränkt) politische Ereignisse wie Wahlabende zeigen. Doch im Wesentlichen ist auch dieser „Lagerfeuer“-Gedanke durch die Fan-Communities der Sozialen Netzwerke abgelöst worden.

Eine erste Befreiung von den festen Programmschemata der Fernsehsender brachte in den neunziger Jahren die Erfindung digitaler Videorekorder für den Hausgebrauch, die durch Time Shift ein zeitversetztes Anschauen der Fernsehprogramme ermöglichten. Doch noch bevor diese Geräte wirklich zu einem Quasi-Standard in den Haushalten wurden, eroberten die bewegten Bilder das Internet. Mit wachsenden Bandbreiten der Internetverbindungen wurde es mit Beginn des 21. Jahrhunderts möglich, Videosignale über das Internetprotokoll zu empfangen, und zwar entweder als Livestream oder als On-Demand-Download. Neben anderen Anbietern wurde dabei vor allem das Netzwerk YouTube zur treibenden Kraft.
Bereits jetzt waren Fernsehsender technisch schon nicht mehr notwendig, denn jeder konnte Videofilme über das Internet einer theoretisch unbegrenzten Zahl von Menschen zur Verfügung stellen. Deshalb kann man die Einführung der Internetprotokolle auch ohne weiteres mit der Erfindung der Druckerpresse vergleichen: Nicht mehr nur einige wenige Reiche und Gelehrte entschieden nun über das Herstellen von Büchern, sondern Händler und Unternehmer hatten die Möglichkeit zur Publikation.
Wenn heute noch Livestreams eines linearen Programms gezeigt werden, dann ist das bereits der Abgesang auf das Fernsehen, das wir jahrzehntelang gekannt haben.

Werden also Fernsehsender in Zukunft überflüssig werden? Ja, in der heutigen Funktion werden Fernsehsender nicht mehr benötigt. Denn weder die Herstellung noch die Verbreitung von Videofilmen erfordert mehr deren Existenz. Einzig redaktionelle Kompetenzen werden weiterhin benötigt werden, doch nicht mehr notwendigerweise als Teil riesiger Produktions- und Distributionsapparate.
Wenn die Fernsehsender nicht unverzüglich damit beginnen, ihre Organisationen, Strukturen und Arbeitsweisen fundamental zu ändern, werden sie in einigen Jahren ohne relevantes Publikum dastehen und keine Existenzberechtigung mehr haben. Eine Rundfunkgebühr für Einrichtungen ohne publizistische Relevanz wird nicht mehr zu rechtfertigen sein. Und auch aus der Werbung für einige wenige lineare Programm werden keine ausreichenden Erlöse mehr zu finanzieren sein.

Wie müssten solche Änderungen aussehen, wenn die Dinosaurier des Fernsehens sich in eine neue Zeit massenmedialer Bewegtbildkommunikation hinüberretten wollen?

ARD, ZDF und auch die kommerziellen Fernsehanstalten müssten damit beginnen, ihre kreativen und journalistischen Kompetenzen wesentlich stärker an den Interessen der Zuschauer auszurichten. Sie müssten, wie bereits so viele YouTuber es heute tun, viel mehr Themengebiete bedienen, in Interaktion mit den Zuschauern Formate weiterentwickeln, sich stark differenzierte Communities aufbauen und in der Produktion ihrer Inhalte viel schneller und flexibler werden. Anstatt in die Technik eigener Mediatheken zu investieren, müssten sie daran arbeiten, senderübergreifende technische Standards zu schaffen, sowie die Auffindbarkeit von Inhalten zu erleichtern und die Bedienbarkeit ihrer Medienportale zu vereinfachen. Netflix, YouTube, Amazon und andere haben hier allerdings bereits einen großen Vorsprung.
Die Juristen der Sender müssten daran arbeiten, möglichst hundert Prozent der Inhalte frei verfügbar zu machen – ob dies gebühren- oder werbefinanziert ist, bliebe solange zweitrangig, wie dem Zuschauer ein entsprechender Gegenwert geboten würde. Die Rundfunkgebühr müsste so etwas wie die Flatrate für die Nutzung öffentlich-rechtlicher Internetvideos sein, die Finanzierung durch Werbung kommerzielle eine unbeschränkte Videonutzung ermöglichen.

Die technischen Möglichkeiten des Internet sind aber nicht nur eine Bedrohung für die großen „alten“ Fernsehsender. Sie bieten auch große Chancen. Wie viele gute Ideen sind in den vergangenen Jahrzehnten auf den Fluren der Sender versandet, weil sie nicht für gut genug für einen Sendeplatz gehalten wurden? Wenige Menschen haben meist darüber entschieden, ob Konzept A oder Konzept B realisiert wurden – und der Verlierer dann auf Nimmerwiedersehen in den Schubladen verschwand. Es gibt aber heute keinen Mangel mehr an Sendeplätzen. Jedes Programm kann realisiert werden. Und wenn es gut ist, wenn es Relevanz besitzt, wenn es gut unterhält oder informiert, wird es auch seine Zuschauer finden. Durch das Internet sind Videoplattformen auch zu riesigen Experimentierplattformen geworden – man braucht dazu heute keine Sender mehr zu gründen! Es könnte die Aufgabe öffentlich-rechtlicher Videonetzwerke sein, kreative Potentiale zu fördern und journalistische Kompetenz zu sichern. Dafür müsste allerdings auf ein gewisses elitäres Denken verzichtet werden – denn das Internet bricht Hierarchien auf und führt zu einer breiten Demokratisierung der Bewegtbildkommunikation.

Menschen wollen auch in Zukunft gut unterhalten und informiert werden. Aber sie wollen das viel individueller und selbstbestimmter tun, als es ihnen unter den Strukturen des „alten“ Fernsehens möglich ist. Die Demokratisierung der Schriftkommunikation hat zu einem Aufblühen von Kultur und Handel geführt – viel spricht dafür, dass im Bereich der bewegten Bilder ähnliches möglich ist.

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Michael

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