Die zerrissene Seele der USA

Wenn die Bürger der USA am 3. November einen neuen Präsidenten wählen, wird unabhängig vom Ergebnis eines deutlich werden: die tiefe Spaltung eines Landes, das alles andere als „united“ ist. Die Jahre der Präsidentschaft von Donald Trump haben dabei aber nur ein Phänomen verdeutlicht, das es schon länger gibt. Denn auch unter Barack Obama waren die US-Amerikaner keineswegs unter dem Sternenbanner vereint. Im Gegenteil: Die Wahl des ersten Farbigen zum Präsidenten hat erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Trump gewählt werden konnte. Denn für viele weiße, meist bildungsferne US-Bürger war es ein Fanal, dass ein Nicht-Weißer das höchste Staatsamt erlangen konnte, und Trump hat diese Abneigung genutzt. Vorbereitet wurde die extreme Polarisierung durch die Tea Party-Bewegung, für die Obamas Wirtschafts- und Sozialpolitik kommunistischen Charakter hatte. Die Tea Party-Bewegung schaffte es dann Schritt für Schritt zunächst die republikanische Partei zu radikalisieren, was dann wiederum Die Demokraten immer mehr auf die linke Seite des politischen Spektrums trieb. Wäre Donald Trump 2016 nicht zum Präsidenten gewählt worden, würde es vermutlich nach vier Jahren Hillary Clinton 2020 einen ähnlich radikalen Kandidaten geben. Man kann also sagen: Die Zeit war reif für einen wie Donald Trump – und das macht die Situation in diesem Jahr so dramatisch. Das Schicksal des Landes steht auf Messers Schneide und die USA sind politisch und gesellschaftlich gespalten wie zuletzt vielleicht zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert.
Wenn man die ersten Jahrzehnte bis zur Unabhängigkeit außer acht läßt, waren die USA vermutlich noch nie ein wirklich geeintes Land mit einer auch nur annähernd politisch homogenen Bevölkerung. Sie waren immer ein Land der Gegensätze, das sich immer nur nach außen hin einig zeigte, immer dann, wenn es es von irgendjemandem bedroht war, ob von den europäischen Mächten des Commonwealth, den Nazis, den Russen – oder durch den internationalen Terrorismus oder China. Diese Bedrohung von außen kam nach 9/11 schon George W. Bush zugute, und durch die Stilisierung Chinas zum größten Feind für Amerikas Wohlstand versucht Trump diese Karte erneut zu spielen, inklusive der Zuschreibung der Verantwortung für die Corona-Pandemie an China.
Es ist trotz allem fraglich, ob diese großen politischen Linien wirklich ausschlaggebend für die Wahlentscheidung der Amerikaner seine werden. Sicher werden Schlagworte wie China oder Sozialismus einige beunruhigen, und die Charakterisierung der „Black Lives Matter“-Bewegung als Teil einer anarchistischen Bewegung durch Trump wird viele Durchschnittsamerikaner beunruhigen und ihre Wahlentscheidung beeinflussen. Doch wirklich entscheidend werden vor allem zwei Faktoren sein: die persönlichen Lebensumstände und die Glaubwürdigkeit der beiden Kandidaten.
Wem es wirtschaftlich gut geht, der wird wenig an den politischen Zuständen ändern wollen – was lange für Trump sprach, hat sich in den letzten Monaten gegen ihn gewendet. Die Rekord-Arbeitslosigkeit wird viele Trump-Wähler verunsichern, auch wenn dieser durch großzügige Unterstützungsleistungen (und Schecks, auf denen buchstäblich sein Name steht) gegensteuert. Es wird darauf ankommen, wem die seit Jahren sinkende Zahl der Unentschiedenen vertraut – einem Mann, der vor vier Jahren versprochen hat, den „Sumpf auszutrocknen“ und seitdem seine eigene Vetternwirtschaft etabliert hat, oder einem Vertreter des „alten Washington“, der auf eine rund vierzigjährige Karriere in diesem System zurückblicken kann. Gewinnen wird derjenige, der den Ton der Unentschiedenen trifft, der ihre Sprache spricht und ihr Vertrauen gewinnt. Knapp wird es auf jeden Fall.

Lesetipp: Politische und gesellschaftliche Polarisierung in den USA. Von Andrea Römmele.

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Michael

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